Das Wort „Opfer“ bezieht sich in diesem Artikel ausdrücklich nicht auf Menschen, die durch ein Vergehen oder Verbrechen, durch katastrophale Ereignisse, Verfolgung, Kriegshandlungen oder Unfälle physisch oder psychisch geschädigt worden sind. Ich verwende daher den Begriff „Opfer“ im Folgenden ausschließlich als Ausdruck einer bestimmten Haltung gesunder Menschen, die grundsätzlich in der Lage sind, selbst etwas an einer für sie belastenden Situation zu ändern.

Wir haben im Büro eine definierte Gleitzeit von einer Stunde. Seit diesem Jahr haben wir, um mehr Struktur in unser aller Arbeitsalltag zu bringen, eine Abmahnungsregelung eingeführt. Wer sich trotz der kulanten Gleitzeit verspätet, sei es nur um 5 Minuten, bekommt eine Abmahnung. Ich finde die Regel angemessen und fair – nur heute Morgen fand ich das auf einmal nicht mehr. Ich habe mal wieder kurz vor knapp das Haus verlassen, bin zur Busstation gelaufen – und sehe den Bus vor meiner Nase davonfahren. Also muss ich auf den nächsten warten und komme, trotz zahlreicher Stoßgebete, etwa 15 Minuten zu spät. Die Abmahnung folgt – und ich bin wütend. Aber nicht auf mich, sondern auf den Busfahrer. 

Wir alle waren schon mal in einer solchen Situation, haben uns ungerecht behandelt gefühlt, als Opfer äußerer Umstände. Das lässt einen leicht verzweifeln – wir fühlen uns hilflos und ohnmächtig, eine nachvollziehbar emotionale Reaktion. Bei sogenannten Opfertypen ist dieses Verhalten aber beinahe zwanghaft: Sie suchen regelrecht nach Wegen, die Verantwortung abzugeben. 

Das haben alle Opfer gemeinsam: Sie geben die Verantwortung ab. Sehen sich als Leidtragende ihrer Umstände, ihres Schicksals oder anderer Menschen. Jeder ist schuld – nur sie selbst nicht.  

Eines haben alle Opfer gemeinsam: Sie geben die Verantwortung ab

Leiden impliziert Schmerz und Ohnmacht – Gefühle, die kein Mensch freiwillig empfindet. Jedenfalls nicht bewusst. Doch Opfer sein ist meist leichter, als sich der Verantwortung und der Veränderung zu stellen. Und so fügen wir uns das Leid, das uns nach dem negativen Erlebnis zu lähmen scheint, oftmals selbst zu: Indem wir uns an unfairen Umständen aufhängen, uns gekränkt aus der Verantwortung ziehen oder uns über Dinge ärgern, die wir ohnehin nicht mehr ändern können, lassen wir genau diese Umstände die Kontrolle über unser Leben übernehmen. Wenn wir andere Menschen und Geschehnisse für unser Unglück verantwortlich machen, erlauben wir es ihnen im Umkehrschluss auch, unser Glück zu beeinflussen.

Leiden impliziert Schmerz und Ohnmacht - Gefühle, die kein Mensch freiwillig empfindet. Jedenfalls nicht bewusst.

Weder das Schicksal, noch das Leben, noch irgendein anderer Mensch als wir selbst sind uns etwas schuldig. Die Opferposition einzunehmen bedeutet gleichzeitig davon auszugehen, dass man Anspruch auf etwas Besseres hat – und das kann nur zu Gefühlen des Betrogenwerdens führen, sobald etwas nicht so klappt, wie man es sich vorgestellt hatte. Dein Partner betrügt dich? Das ist furchtbar. Aber es ist nunmal dein Leben – also versuch, nicht länger den Kopf in den Sand zu stecken. 

Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich mit weniger als dem Bestmöglichen zufriedengeben muss. Verlasse den Menschen, der dir nicht guttut! Wechsle den Job. Finde ein neues Hobby, wenn du dem alten nicht mehr nachgehen kannst. Das ist der einzige Weg, um nachhaltig glücklich zu werden. 

Die Entscheidung zur Selbstbestimmtheit erfordert, vor allem in Krisenzeiten, viel Kraft, Mut und den unbedingten Willen, die eigenen Ängste zu überwinden. Was hilft, ist zu wissen, dass es natürlich Tage, Wochen und Monate geben wird, in denen das unendlich schwerfällt – aber dass man auch diese überstehen wird. Denn eines kann uns niemand nehmen: die Wahl zu entscheiden. Sobald wir das begreifen und verinnerlichen, holen wir uns die Selbstbestimmtheit über unser Leben zurück.