SMS ins Nirgendwo
Hey Arschloch!!!!! Hattest du das schon lange geplant? Mich einfach wie einen Vollidioten am Bahnhof stehen und warten zu lassen, während du nie vorhattest, zu erscheinen? Und ob es an einer anderen Frau liegt oder daran, dass du einfach ein unsensibler Feigling bist, darf ich mir jetzt selbst zusammenreimen? Ich hoffe, du bist zufrieden damit, wie du dich nach über einem Jahr aus der Affäre ziehst und mich mit meinen Gefühlen und deinen leeren Versprechungen alleine lässt. Schade. Viel Glück in deinem neuen Leben und danke für Nichts!
Jeder, der schonmal eine solche Nachricht verfasst hat, darf jetzt einmal virtuell mit mir anstoßen. Ich schätze, wir sind einige. Da jetzt sicher viele Leser rote Ohren bekommen oder in Erinnerung an verletzte Nachrichten wie diese innerlich zusammenzucken – ich kann Euch beruhigen: So geht es uns allen. Denn das Schlimme ist: SMS, Briefe und Whatsapp dieser Art sind meist von akuten Gefühlen der Verletztheit, Wut und vielleicht sogar Rachegelüsten bestimmt. Man will, nein man muss, dem anderen deutlich machen, was er oder sie in einem angerichtet hat. Und das ist meist nichts Schönes.
Wir alle kennen den Satz “Dance, as if nobody is watching”. Genauso verhält es sich mit Wut-Nachrichten. Nur, während Tanzen eigentlich immer schön ist, gerade dann, wenn man seinen Gefühlen freien Lauf lässt, werden beim Schreiben Emotionen nicht in Bewegungen verwandelt, sondern landen oft mit zehnfacher Wucht auf dem Papier. Oder auf dem Bildschirm des Anderen. Und dann, ist die Wut nach einigen Stunden oder Tagen endlich abgeklungen, bereut man die vielleicht unfairen Vorwürfe oder wüsten Beschimpfungen, die man dem anderen da an den Kopf geknallt hat. Jetzt könnte man vermuten die einfachste Lösung sei es, das Niederschreiben dieser Wut einfach sein zu lassen und sich stattdessen anderweitig abzureagieren. Jedoch würden die negativen Gefühle dann nur begraben und liefen Gefahr, beim nächsten Streit doch wieder zum Vorschein zu kommen. Es gibt aber einen Weg, die Wut in etwas Positives, sogar Heilsames, umzuwandeln, ohne dabei noch Jahre später vor Scham über den eigenen Kontrollverlust im Boden versinken zu wollen. Kontrollverlust kann Gutes bringen – wenn man ihn kontrolliert einsetzt.
Wir alle kennen den Satz “Dance, as if nobody is watching”. Genauso verhält es sich mit Wut-Nachrichten.
Der erste Teil des Tricks ist es, zu schreiben, als würde es niemand lesen. Einfach drauflos schreiben, inklusive Beschimpfungen und Rachegelüste. Alles darf raus. Alles darf aufs Papier (oder die Notizen-App). Schreibt man, als würde es niemand lesen, geschehen zwei wundersame Dinge: Erstens. Wir lassen unseren Gedanken, Ängsten und Emotionen freien Lauf. Endlich genau das zu sagen, was wir fühlen, ohne dabei die Reaktion des Anderen mit einkalkulieren zu müssen, kann unglaublich befreiend sein.
Zweitens, und das überrascht mich jedes Mal aufs Neue, erfahren wir auf diese Weise sehr viel mehr über unsere eigene Gefühlswelt, als uns vorher überhaupt bewusst war. Wir alle fühlen uns von Zeit zu Zeit im Dschungel unserer Gedanken verloren. Sind wütend auf unseren Partner und können den Grund nicht wirklich greifen, weil da so viel ist, das unsere Wut bedingt. Oder weil der Grund für unsere Wut vielleicht gar nicht beim Anderen liegt, sondern in uns selber schlummert. Schreiben wir unsere Gefühle nieder, finden wir oft mehr über uns selbst heraus, als über die Person, an die wir schreiben. Und das ist nicht nur befreiend, sondern zeigt uns oft schon den Weg aus der Wut – ohne, dass jemand Zweites dazu beitragen muss. Durch das Aufschreiben seiner Gefühle wird man selbst zum eigenen besten Freund, mit dem man sich austauscht und berät. Durch das Aufschreiben von Gedanken, Gefühlen und Ängsten entlasten wir unser System. Emotionen, die wir in Worte fassen, sind uns greifbarer, werden verständlicher und weniger bedrohlich. Wir fühlen uns weniger blockiert und können die negativen Gefühle leichter und nachhaltiger loslassen.
Durch das Aufschreiben seiner Gefühle wird man selbst zum eigenen besten Freund, mit dem man sich austauscht und berät.
Der nächste Schritt: Es wird sich unglaublich erleichternd anfühlen, endlich all das losgeworden zu sein, was einem auf der Seele brennt. Jetzt gilt es aber, Geschriebenes nicht hinaus in die Welt zu entlassen. Denn, ihr ahnt es, unser Trick heißt: Briefe schreiben, die man nicht abschicken wird. Oder zumindest fürs Erste nicht.
Ist ein solcher Brief fertig, lege ich ihn erstmal zur Seite. Für ein paar Stunden oder ein paar Tage, je nach Gefühl. Wenn ich ihn das nächste Mal, sagen wir am nächsten Tag, hervorhole, fällt etwas Interessantes auf: Jetzt, wo die Wut leicht verflogen ist, vielleicht anderen Gefühlen Platz gemacht hat, würde ich einige Passagen des Briefes auf einmal ganz anders schreiben. Und das mache ich auch. Das ist der dritte Teil des Tricks. Legt den Brief neben euch, vor euch ein neues Blatt Papier, und schreibt ihn nochmal von vorn.
Indem man diese Prozedur mehrmals hintereinander wiederholt, sich vielleicht mal eine Woche Zeit für eine Nachricht nimmt, die man sonst in wenigen Minuten runtergetippt und dann hastig abgeschickt hätte, weist man sich selbst den Weg zum Kern seiner Wut, seiner Verletzung, seiner Wünsche.
Und das fernab von Beschimpfungen und Anschuldigungen. Am Ende hat man ein paar Zeilen vor sich, die dem ersten Brief mehr oder weniger ähneln. Was man außerdem hat, ist Klarheit: Über die eigenen Gefühle und darüber, was man dem anderen wirklich gerne mal sagen würde.
Hey. Ich hoffe es geht dir gut. Jetzt ist es schon fast eine Woche her und ich habe noch nichts von dir gehört. Ich vermute du hattest deine Gründe, auch wenn mir unerklärlich ist, warum du diese vor mir verschweigst und dich lieber einfach aus der sprichwörtlichen Affäre ziehst. Irgendwie hatte ich angenommen, das zwischen uns sei eine Sache von Zuneigung und Respekt. Jedenfalls biete ich dir an, dich noch zu erklären, wenn du das möchtest. Ich fände es angebracht. Und ich vermisse dich.
Bis dann.
Ob man diese Zeilen dann noch abschickt oder nicht, tut in diesem Selbstexperiment gar nicht so viel zur Sache. Was wichtig ist, ist der Weg hierhin. Das Loslassen, das Klären von Gedanken. Was jetzt noch dasteht, wurde lektoriert, überarbeitet und abgesegnet. Es kann deshalb auch ruhig an seinen ursprünglichen Empfänger versandt werden. Mach mit dem Brief, was dir guttut: Sperr ihn weg, verbrenne ihn. Tippe die Zeilen in Whatsapp und drücke auf SENDEN. Egal was, es wird sich richtig anfühlen.